036: Wo ist denn Hagen, das kleine Eichhörnchen abgeblieben? Frodelinde steht rätselnd unter dem leeren Kobel von Hagen. Ob ihm wohl etwas passiert ist? Nein, Hagen hat sich nur selbst in eine etwas unangenehme Position gebracht… Und Schuld daran war ein Adentskranz!
Frodelinde – Abenteuer im Wald Band 3
„Was machen die denn da?“ Hagen, das kleine Eichhörnchen, sitzt in einer hohen Fichte und schaut durch ein hell erleuchtetes Fenster. Das Fenster gehört zu einem gelben, dreistöckigen Haus, das in der Straße, die direkt hinter dem Wald beginnt, liegt. Hagen kommt öfter hierher, denn er liebt Fichtenzapfen über alles. Gerade hat er unter der Fichte, einem Nadelbaum, noch ein paar leckere Zapfen gefunden und weggenascht. Und wie immer ist er danach den Stamm der Fichte hochgeklettert und hat in die Fenster des gelben Hauses gelukt.
Hagen findet es immer wieder interessant, was die Menschen in ihren Wohnungen so treiben. Z.B. essen die Menschen häufig nicht mit ihren Händen, sondern nehmen so komische Metallgegenstände zur Hilfe und schieben sich damit das Essen in den Mund. Und nachts kriechen sie nicht in einen Kobel und rollen sich dort ein, sondern decken sich mit einer Decke zu. Und sowieso, statt ein schönes, flauschiges Winterfell auf der Haut zu haben, sind die Menschen auch im Winter nackt und müssen sich dicke Sachen überziehen, damit sie nicht frieren. Menschen sind schon komische Lebewesen. Und was sie da heute machen, ist ja wieder sehr skurril.
Hagen klettert auf dem Fichtenast noch ein Stück näher an das Fenster heran. Da es jetzt im Winter schon früh dunkel wird, können die Menschen ihn draußen auf dem Ast nicht sehen. Er kann sie jedoch im hell erleuchteten Haus um so besser sehen. Und was die da heute im 3. Stock so machen, weckt Hagens Interesse doch sehr! Um einen Tisch herum sitzen zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, und eine Frau. Vor ihnen auf dem Tisch liegen jede Menge Tannenzweige, ein Strohkranz, rote Schleifen, rote Kerzen und – das ist das Interessanteste für Hagen – eine Handvoll Walnüsse! Echte, frische, hellbraune Walnüsse! Eindeutig die Lieblingsspeise von dem kleinen, neugierigen Eichhörnchen!
Hagen leckt sich mit seiner Zunge über die Lippen. Was für eine Delikatesse! Gespannt beobachtet er, was die Menschen wohl mit den Walnüssen vorhaben. Das Mädchen nimmt sich ein Stück Draht und einen Tannenzweig und beginnt nun, den Zweig mit Hilfe des Drahtes um den Strohkranz zu wickeln. „Was das wohl soll?“, fragt sich Hagen. „Das kann man doch nicht essen, wenn da ein Draht rumgewickelt ist.“ Gespannt beobachtet das Eichhörnchen weiter, was nun geschieht.
Nachdem die Tannenzweige um den Kranz gewickelt sind, nimmt die Frau vier Kerzenhalter und befestigt sie in gleichmäßigen Abständen auf dem Kranz. Dann setzt sie vier rote Kerzen auf die Kerzenhalter.
„Na das sieht ja ganz hübsch aus“, denkt sich Hagen. Was das werden soll, weiß er aber immer noch nicht. Und jetzt wird es spannend! Der Junge schnappt sich eine Walnuss und Hagen denkt schon, dass er die jetzt mit seinen Zähnen aufbeißen wird und den inneren Kern aufessen wird, aber: falsch gedacht! Der Junge wickelt doch tatsächlich ein Stück Draht um die Walnuss und befestigt sie zusammen mit einer roten Schleife zwischen zwei Kerzen! Und genau das gleiche macht er mit drei weiteren Walnüssen, bis auf dem Kranz zwischen allen vier Kerzen nun vier Walnüsse mit vier Schleifen befestigt sind. Hagen versteht die Welt nicht mehr. Was soll das denn? So kann man die Nüsse ja gar nicht essen! Und nun nimmt die Frau auch noch den Kranz und trägt ihn in die Küche, durch deren Fenster Hagen ein Glück auch schauen kann nachdem die Frau das Licht angemacht hat. Und dort stellt die Frau den Kranz mitten auf den Küchentisch. Die Kinder sind ihr in die Küche gefolgt und zusammen schauen die drei den Kranz an und lächeln.
„Jetzt essen sie bestimmt die Walnüsse“, denkt Hagen ganz neidisch, aber: Pustekuchen! Die drei verlassen die Küche und löschen das Licht.
„Wie, das war es jetzt? Kein Festmahl und Hände ablecken danach?“, wundert sich das Eichhörnchen. Es versteht die Welt nicht mehr. Wie können die Menschen sich nur so eine Leckerei entgehen lassen? Und jetzt sieht Hagen auch noch, wie die drei sich Bett fertig machen und Schlafen gehen. Das darf ja wohl alles nicht wahr sein! Wie kann man nur so leckere Walnüsse einfach liegen lassen? Da kann doch sonstwer vorbeikommen und die wegnaschen!
Apropos sonstwer! Vielleicht, aber nur ganz vielleicht, sollte er selbst sich vielleicht der Sache annehmen?
„Also“, denkt Hagen, „wenn ich sie nicht esse, wird irgendjemand anderes die Walnüsse klauen. Und das kann ich nicht zulassen!“ Kaum gedacht, klettert er auch schon fix den Fichtenstamm hinab und hüpft zum Eingang des gelben Hauses.
Die hölzerne Haustür ist verschlossen. Hagen wirft sich mit seinem ganzen Eichhörnchengewicht gegen die Tür, aber nichts rührt sich. Da fällt ihm ein, dass er einmal in dieser komischen Flimmerkiste, die die Menschen in ihrem Wohnzimmer stehen haben, gesehen hat, wie ein Mann mit den Füßen eine Tür eingetreten hat. „Ha“, denkt sich Hagen, „was der kann, kann ich schon lange“, nimmt Anlauf und springt mit ausgestreckter Hinterpfote gegen die Tür. Autsch! Das hat wehgetan! Die schwere Holztür hat sich natürlich keinen Millimeter bewegt. Bedröppelt sitzt Hagen auf den Steinen vor der Tür.
>Klack<. Was war das? Das kleine Eichhörnchen schaut sich erschrocken um. Hinter ihm auf der Straße hat ein Auto geparkt. Gerade ist ein Mann ausgestiegen und hat die Autotür zugeworfen. Zügigen Schrittes geht er auf das gelbe Haus zu. Schnell huscht Hagen unter einen Busch neben der Haustür und beobachtet den Mann. Der holt einen Schlüssel aus der Hosentasche, schließt die hölzerne Tür auf und verschwindet im Hausflur. Die Tür schwingt ganz langsam hinter ihm zu.
Das ist Hagens Chance! Er sprintet unter dem Busch hervor und quetscht sich im letzten Moment in den Hausflur bevor die Tür wieder ins Schloss fällt. Schnell folgt er dem Mann lautlos das Treppenhaus hinauf bis in den dritten Stock. Als der Mann auch hier die Tür, die in die Wohnung mit den hell erleuchteten Fenstern führt, aufschließt, huscht Hagen unbemerkt zwischen den Beinen des Mannes mit in die Wohnung.
Hastig schaut sich Hagen nach einem guten Versteck um. Da, das Schuhregal! Mit einem Satz sitzt das Eichhörnchen in dem dunklen, vollgestopften Schuhregal. Boah, wie das hier nach Käsefüßen stinkt! Schnell diePfötchen auf die Nase drücken und nur noch durch den Mund atmen!
Der Mann ist inzwischen in die Küche gegangen und schmiert sich ein Brot. Langsam kriecht Hagen aus dem Versteck und schaut dem Mann dabei zu, wie er am Küchentisch sitzt und sein Abendbrot verspeist. Hoffentlich isst er die Walnüsse nicht als Nachtisch! Der Kranz mit den Nüssen steht direkt vor seiner Nase auf dem Küchentisch! Aufgeregt hüpft das Eichhörnchen von einem Bein auf das andere.
Da steht der Mann plötzlich auf, stellt Teller und Besteck in die Spülmaschine und wendet sich zur Tür. >Hops<, schon sitzt Hagen wieder im Schuhregal und hält sich die Nase zu. Der Mann kommt aus der Küche raus, löscht das Licht und geht ins Badezimmer. Hagen kriecht erschöpft von dem Gestank zwischen den Schuhen hervor und schleicht in die dunkle Küche. Ein großer Sprung und schon sitzt er neben dem Kranz auf dem Küchentisch.
„Komisch“, wundert sich Hagen. „Wieso hat der Typ so eine Leckerei wie die Walnüsse nicht aufgegessen?“ Er geht mit seinem Stupsnäschen dicht an die Nüsse heran und atmet ihren köstlichen Duft ein. Mit einem Ohr hört er, wie der Mann aus dem Badezimmer kommt und im Schlafzimmer verschwindet. Jetzt hat er freie Bahn! Er nimmt die erste Walnuss zwischen seine Pfötchen und zieht. Und zieht. Und zieht. Aber nichts passiert! Der Draht, der um die Walnuss gewickelt ist, steckt fest in dem Kranz. Aber das kann das kleine Eichhörnchen nicht aufhalten! Dann werden die Dinger halt an Ort und Stelle gegessen! Gedacht, getan! Genüsslich knabbert Hagen eine Walnuss nach der anderen mit seinen spitzen Zähnchen auf und genießt die köstlichen Kerne im Inneren der Nuss. Was für eine Delikatesse! Nach der vierten und letzten Nuss setzt er sich in die Mitte des Kranzes und reibt sich sein Bäuchlein. Dieser Ausflug hat sich wirklich gelohnt!
Nach einer längeren Pause hüpft Hagen vom Tisch und läuft zur Wohnungstür. Nur hat er leider nicht bedacht, dass die jetzt verschlossen ist! Er probiert nochmal seinen Trick mit dem Tritt gegen die Tür, aber auch diesmal rührt sich nichts!
„Na toll!“, denkt sich das kleine Eichhörnchen. „Jetzt schlafen alle Menschen und ich muss bis morgen früh warten, bis sie wieder wach sind! Dann muss ich mir wohl für heute Nacht eine andere Schlafmöglichkeit als meinen Kobel suchen! Egal, mein Bauch ist sowieso so voll, dann brauche ich nicht mehr so weit laufen! Hm, wo könnte ich denn heute Nacht schlafen?“
Hagens Augen wandern durch den Flur. Da entdeckt er oben auf einem Regal einen Motorradhelm, dessen Visier offen ist. Perfekt! Das ist doch so ähnlich wie ein Kobel! Das Eichhörnchen hangelt sich an einer Jacke hoch hinauf auf das Regal. Im Vorbeigehen hat er noch einen Schal aus der Jackentasche mitgehen lassen. Oben auf dem Regal angekommen polstert er den Helm mit dem Schal aus, kuschelt sich in sein neues Nest und ist innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
Am nächsten Morgen im Wald zockelt ein dickes Wildschwein durch das Unterholz. Es ist Frodelinde, die gerade von ihrer morgendlichen Futtersuche zurückkommt. Bevor sie sich im Gebüsch schlafen legt, will sie aber noch bei ihrem Freund Hagen vorbei schauen und ein kleines Schwätzchen mit ihm halten. Frodelinde bleibt unter Hagens Kobel stehen und ruft: „Hagen, bist du schon wach? Ich bin’s, Frodelinde!“ Nichts rührt sich. Frodelinde ruft nochmal: „Hagen, bist du da?“ Immer noch keine Antwort.
Da kommt der Buntspecht Dieter angeflogen. „Guten Morgen, Frodelinde! Den Hagen habe ich noch nicht gesehen. Und ich bin schon seit dem ersten Sonnenstrahl auf dem Nachbarbaum.“
„Kannst du ihn bitte wecken?“, fragt Frodelinde. „Ich wollte ihm Guten Morgen sagen!“
„Kein Problem.“ Dieter flattert zum Kobel und schaut hinein. Leere!
„Der ist nicht zu Hause“, ruft Dieter den Baum hinab.
Da öffnet Renate, die Eule, die einen Baum weiter wohnt, schläfrig ihre Augen. „Oh Leute, ich bin gerade erst ins Bett gegangen. Müsst ihr hier so laut rumschreien? Und Hagen war übrigens auch die ganze Nacht nicht da. Der ist bestimmt noch bei der großen Fichte am Waldrand und frisst Zapfen. Da wollte er jedenfalls gestern Abend hin.“ Schon hat die Eule ihre Augen wieder geschlossen und schläft weiter.
„Was, er war die ganze Nacht nicht da?“, ruft Frodelinde aufgeregt. „Dieter, komm, wir müssen ihn suchen! Die Fichte steht doch gleich bei der Straße! Hoffentlich ist Hagen nicht vor ein Auto gelaufen!“
In rasantem Tempo rast Frodelinde auch schon Richtung Waldrand. Über ihrem Kopf flattert der Buntspecht. Nach nur einigen Minuten kommen die beiden bei der großen Fichte an. Aber das Eichhörnchen ist nicht zu sehen. Nur ein paar angeknabberte Zapfen am Boden zeugen davon, dass er hier gewesen sein muss.
„Wo kann er nur sein?“ Frodelinde schaut sich suchend um, kann Hagen aber nirgends entdecken. Dieter flattert um die Fichte herum und sucht zwischen den Zweigen nach dem Eichhörnchen. Da bemerkt er im Haus hinter sich eine Bewegung. Dieter flattert näher an das Fenster im dritten Stock heran. Und wer sitzt da und klopft mit den Pfötchen aufgeregt gegen die Scheibe? Hagen!
„Das gibt’s doch nicht!“, ruft der Buntspecht aufgeregt. „Hagen ist im Haus eingesperrt! Wie kriegen wir ihn da bloss wieder raus?“
Tja, was Hagen nicht gewusst hatte, war Folgendes: Heute war Samstag und keiner der Familienmitglieder aus der Wohnung im dritten Stock musste heute früh die Wohnung verlassen. Alle lagen noch in den Betten und schliefen. Nur das kleine Eichhörnchen war putzmunter und wollte nun aber endlich mal zurück in den Wald! Was für ein Glück, dass Dieter gerade am Fenster vorbei geflogen kam, als Hagen sehnsüchtig aus dem Fenster heraus auf den Wald geschaut hatte.
„Ok, Dieter, ich habe eine Idee! Wir machen einen Riesenlärm bis alle Menschen wach sind. Dann macht bestimmt einer das Fenster oder die Tür auf und Hagen kann entwischen!“, schlägt Frodelinde vor.
„Gute Idee“, antwortet Dieter und fängt sofort an, laut zu rufen. Außerdem fliegt er immer wieder an die Fenster des Hauses und klopft gegen die Scheiben. Frodelinde raschelt in der Zeit so laut es geht durch das trockene Laub und grunzt so kräftig sie kann. Und tatsächlich! Es dauert nicht lange und an dem Schlafzimmerfenster erscheinen die verschlafenen Gesichter von einer Frau und einem Mann. Erstaunt blicken sie aus dem Fenster. Kurz darauf erscheinen zwei Kindergesichter neben ihnen.
Jetzt öffnet die Frau das Fenster, um besser nach unten schauen zu können, wo Frodelinde durch das Laub wühlt. In dem Moment springt hinter den Menschen ein Schatten aus dem Schlafzimmerfenster über die Menschen hinaus auf einen Fichtenzweig, der bis zum Schlafzimmerfenster reicht. Der Schatten ist das Eichhörnchen Hagen, der das geöffnete Fenster als Fluchtweg genutzt hat.
Zuerst erschrecken die Kinder und ihre Eltern heftig, als Hagen über sie rüberspringt, und dann fangen sie an zu lachen.
„Na, da hatten wir heute Nacht wohl einen heimlichen Übernachtungsgast“, lacht die Frau. Gemeinsam mit ihrem Mann und den Kindern schaut sie Frodelinde, Hagen und Dieter nach, wie sie im Wald verschwinden.
„Vielen Dank, Freunde! Das war auch dringend nötig, dass ich da rauskomme!“, ruft Hagen seinen Freunden zu, während er von Baum zu Baum hüpft. „Das hat da ganz schön nach Käsefüßen gerochen!“
„Was wolltest du denn eigentlich in dem Haus?“, fragt Dieter.
„Ach, ich war eigentlich nur neugierig, wie es da aussieht“, flunkert Hagen. Es muss ja schließlich nicht jeder wissen, dass er sich für ein paar Walnüsse hat einsperren lassen!
Und der Adventskranz? Die ganze Familie hat herzlich gelacht, als sie die angeknabberten Walnüsse auf dem Kranz entdeckt hat. Und zur Erinnerung an das freche Eichhörnchen, das bei Ihnen unfreiwillig eine Nacht übernachtet hat, haben sie die angeknabberten Nüsse einfach auf dem Adventskranz drauf gelassen.